Werkstatt

05 - Unruhe

Es meldeten sich keine Angehörigen. Keine Tante, kein unehelicher Sohn, keine in die Fremde verschlagene Nichte. Else wartete. Und wartete. Die Tage gingen ins Land, die Wochen. Irgendwann aber änderte sich etwas. Sie ging fortwährend auf und ab; an einen sich selbst genügenden Liegestuhlabend war nicht mehr zu denken. Nicht mal beim Frühstück konnte sie ruhig auf ihrem Stuhl sitzen bleiben. Sie stand auf, machte Halt am Fenster, sie ging in den Flur, strich über ihren Mantel am Kleiderhaken, über ihre Jacke, ging rüber in die Stube, stellte sich dort ans Fenster. Der einzige Ort, wo sie es länger als eine Minute aushielt. Sie blickte hinaus und wusste nicht wohin.

– Du musst sie jetzt losschicken. Genau der richtige Zeitpunkt. Da beißt keine Maus die Zeiger ab. Also, worauf wartest du noch. –

Sie stand am Fenster und blickte hinaus.
Dann nahmen ihre Schritte wieder Fahrt auf. Sie irrte durch die Wohnung, griff nach diesem, nach jenem Kleidungsstück, um es kurz zu betrachten, zu bedenken und dann achtlos auf den rasch anwachsenden Kleiderhaufen zu werfen. Dann drehte sich ihr Karussell weiter. Sie rannte auf und ab. Kehrte zurück, zupfte den nächsten Fummel aus ihrem Fundus, bereicherte das Faltengebirge um eine weitere Schicht. Irgendwann dann nahm sie sich ein Herz und schleppte den Koffer an, ließ die Schnallen aufschnacken und öffnete den Deckel. Aber bevor sie nun die Kleideralpen abtrug und in den Koffer umschichtete, stellte sie sich breitbeinig hin und legte die Finger an die Stirn. Was hatte er gesagt? Siebzig Kilo, wenn sie sich recht erinnerte, durch zehn Barren, heißt ja wohl, dass sie einen, na gut zwei würde mitnehmen können. Dann würde es eben ein bleischwerer Koffer werden. Ihr Kleiderzeugs würde sie ohnehin bloß brauchen, um die beiden Barren vorm Aneinanderstoßen zu bewahren. Fein einschlagen, weich abpuffern. Und ein Dreißig-Kilo-Koffer, nun ja, dürfte einem gestandenen Gepäckträger ja wohl zuzumuten sein. Oder vielleicht zwei Koffer?
Else Lasker-Schüler machte sich auf. Von Jerusalem nach Elberfeld. Aber erstmal musste sie sich ins Jenseits befördern.

von Ulrich Land (Kommentare: 0)

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