Werkstatt

02 - Eine sichere Bank

Der alte, schon ziemlich gebrechliche Mann war einer der jüdischen Kaufleute, die es gerade noch rechtzeitig geschafft hatten. Mit Hängen und mit Würgen. Die die Zeichen der Zeit viel zu spät gesehen, geschweige denn erkannt hatten und auf den letzten Drücker nach Israel geflohen waren. Die froh sein konnten, der Deportation entgangen zu sein. Und er hatte es offenbar noch auf der Reise verstanden, kaum dass er das Reich hinter sich gelassen hatte, in Zürich oder wo haltzumachen, einen Großteil seiner Konten zu plündern und das Bare in Goldbarren umzumünzen. mitten in den Turbulenzen der hoch dramatischen Flucht.

Das rechnete er sich hoch an. Und doch trug er ein nicht zu beruhigendes Trauma mit davon. Vom überhasteten Aufbruch, bei dem er so vieles, was im heilig und teuer war, hatte zurücklassen müssen. Vom endgültigen Verneinen des Glaubens ans Gute im Menschen. Von der unumkehrbaren, allumfassenden Enttäuschung. Vom totalen Krieg dieser Wahnsinnigen gegen ihn. Von der Tatsache, dass er all seine Lieben verloren hatte. Weil er zu lange gezögert hatte. Nur deshalb waren sie aufgegriffen und abtransportiert worden. Alle waren sie, so sie denn noch lebten, in irgendwelchen Lagern gelandet, in "Konzentrationslagern", wie man sie wohl nannte. Was für ein Begriff, was für ein ungeheuerlicher Begriff? Wer konzentriert sich da auf was?

Er war der einzige, der entkommen war, als er um die Ecke bog, das Fahrzeug mit seinen Lieben davonfahren, aber den anderen Gestapowagen noch vorm Haus stehen sah und Fersengeld gab. Erst viel später begriff er, dass er schon wieder feige gewesen war, zwergenhaft feige, weil er abgehauen war und sich nicht der Gestapo ausgeliefert hatte, um wenigstens eine Chance zu wahren, mit seinen Leuten ins gleiche Todeslager zu kommen. Schmählich hatte er sie im Stich gelassen.

Er war fertig. Völlig verzweifelt und fix und fertig. Jedes, aber auch jedes Vertrauen in andere hatte er verloren. Nichts gab es, was ihm noch sicher schien, was Solidarität ausstrahlte und auf die Ewigkeit ausgerichtet war. Nichts, außer Gold vielleicht. Vielleicht.

Aber das eminenteste seiner Interessen ließ er sich nicht nehmen. Schon seit jeher, noch drüben im Reich, in den finstersten Zeiten war er inkognito ins Theater geschlürft, auch wenn ihm die krampfhaft völkische Ausrichtung sämtlicher Aufführungen den Abend gründlich vermieste. Lesungen, Ausstellungseröffnungen, er war zugegen, wo er nur konnte. So war es kein Wunder, dass er auch binnen kürzester Zeit in Jerusalem den Weg zum Literaturzirkel fand. Sein Eldorado. Hier im Exil, das er ähnlich wie Else Lasker-Schüler hasste wie die Pest, aber hinnahm mit der Dankbarkeit und dem schlechten Gewissen des Überlebenden und Entkommenen. So war er einer der treuesten Besucher von Elses Lese- und Vortragskreis "Kraal" und erfreute sich insbesondere auch an ihrer Person. An ihrer Pfiffigkeit, ihrem Witz und ihrer Art, die Welt poetisch zu durchdringen und aufzuwerten. Wenig verwunderlich also, dass die beiden sich auch über den literarischen Kreis hinaus immer mal wieder verabredeten oder mehr oder weniger zufällig über den Weg liefen. Else Lasker-Schüler war, seit das Trauma sein Leben verschattete, der erste Mensch, zu dem er wieder eine Art vorsichtiges Vertrauen fasste. Die einzige Person überhaupt, mit der er mehr als drei Worte wechselte. Er glaubte ihr in ihren Spintisierereien, in ihren Spleens, in ihrer Dauerrolle als Prinz Jussuf. Glaubte ihr in ihrem Aus-der-Reihe-Tanzen. Exotisch und exzentrisch.

Und spätestens an jenem Abend begriff er, woran er war. Sie hatte ihn großspurig in ein vornehmes Restaurant eingeladen. Um dann nach dem Dessert und dem letzten Absacker in all den Taschen ihres Mantels, ihre Gewänder, Hosen und Blusen verzweifelt nach Geld zu suchen. Ohne freilich welches zu finden. Sogar in den Socken fingerte sie fiebrig herum.

Sie konnte und wollte jedenfalls nicht ausschließen, dass sie am Morgen, noch nicht so ganz im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, die Alltagssocken mit dem Sparstrumpf verwechselt hatte.

Natürlich griff der Alte, ohne zu zaudern, in sein Portemonnaie und beglich die Zeche. Spätestens da also begriff er, dass Geld nicht ihre Welt war. Wo es herkam, war unerheblich. Es hatte da zu sein, um ausgegeben zu werden. Aber mehr Wert hatte es nicht. Zumal es immer fehlte. An allen Ecken und Enden.

Dabei war die Zeche jenes Abends durchaus überschaubar gewesen. Sie hatte keineswegs über die Stränge geschlagen. Obwohl sie doch wissen musste, dass sie ohne Pfennig in der Tasche losgezogen war, dass also ohnehin er die Rechnung würde bezahlen müssen. Trotzdem also war sie bescheiden wie immer. Sie wusste von den Finten des Geldes nichts und von den Finten der Geldströme schon überhaupt gar nichts. Die Frau war eine sichere Bank. So sicher wie das Amen in der Synagoge, in der Kirche, gleichviel.

Sie stellte die entscheidende Möglichkeit dar, ihn wenigstens von dieser einen Angst zu befreien. Von einem Teil dieser Angst wenigstens. Sieben Goldbarren immerhin, kein Pappenstiel. Das Risiko war einfach zu groß. War denn ausgeschlossen, dass die Nazis und ihre verlängerten Arme ihn selbst hier holen kamen! Und damit ihnen nicht auch noch das Gold in die Hand fiel, musste es raus aus der Wohnung. Musste woanders hin. Aber wohin? Eine Frage, die ihn umtrieb, seit er in Jerusalem gelandet war. Denn nicht mal den Tresorkellern von irgendwelchen Banken traute er über den finstren Weg.

Da kam ihm Else mit dem blinden Fleck in Gelddingen und dem Herz auf ebendiesem Fleck gerade recht. Und niemand würde bei der alten Dame so viel Geld vermuten, schon gar nicht so viel Gold. Er musste sie nur noch davon überzeugen.

– Was ja nun wahrlich kein Kunststück ist. Da muss ich mich als Schrift- und Federführer doch mal mit einer banalen Lebensweisheit einklinken: Wer keinen Dunst von Geld hat, hat auch keinen Dunst von den Risiken, die damit verbunden sind, welches zu besitzen. Also her mit dem Zeug. –

Er versuchte, es so vorsichtig wie möglich anzugehen. Unter Einsatz einiger Gentleman-Schmeicheleien war es ihm gelungen, anderntags eine Einladung zu ihr nach Hause zu ergattern. So konnte er sich ein Bild von ihrer Bleibe, von der hoffentlich späteren Heimstatt seiner Goldbarren machen. Und dieses Bild war deutlich weniger vertrauenerweckend als die Dichterin selbst. Obwohl sie doch die eine oder andere regelmäßige Unterstützung erhielt, bot schon der Aufstieg über die Außentreppe ein Bild des Jammers.

Sämtliche Hauswände waren unverputzt, Treppen und Geländer wirkten baufällig, überall Schmutz und Schutt. Und in ihrem Zimmer waren so einige Spinnweben bestens vernetzt. In der Mitte stand ein Tisch mit einem Spirituskocher, der ihr offenbar dazu diente, Würstchen heißzumachen. In einer Zimmerecke hatte sie eine Art Altar eingerichtet, der mit Fotos ihres Sohns ausstaffiert war. So wie es aussah, schlief sie auf einem mit diversen bunten Kissen und Decken beladenen Liegestuhl, der in der Mitte des Zimmers stand. Eine andere Bettstatt war jedenfalls nicht auszumachen.

– Vorsicht, Vorsicht! Klischee, mein Lieber. Kein Verhältnis zum Geld und Chaos in der Bude. Die arme Poetin. Selbst wenn auch ihr Zeitgenosse und Kollege Shalom Ben-Chorin den Liegestuhl anführt: "Inmitten eines chaotischen Wustes von Manuskripten und Zeichnungen, auch den Blättern ihres früh verstorbenen Sohnes Paul, der ein begabter Maler war. Sie selbst verfertigte phantastische Illustrationen zu ihren Büchern, malte zum Teil mit Kaffee und beklebte mit Buntpapier die seltsamen Gestalten aus Theben und Traum-Jerusalem."

Trotzdem. Grade wenn du dich hier zum Schreiberling aufwirfst und die Fäden in der Hand hältst: Du bist nicht dabei gewesen, Gnade der späten Geburt. Und die Überlieferungen sind alles andere als einhellig. Vereinsamt ist sie bei Lichte besehn schon mal auf keinen Fall. In der Szene der aus Europa und insbesondere aus dem Deutschen Reich stammenden Juden ist sie eine bekannte Figur. Von Vereinsamung keine Spur. Trotzdem aber fühlt sie sich einsam und allein. Ben-Chorin erzählt, dass er eines Abends mit ihr in einem Café saß und irgendwann sagte, er wolle allmählich aufbrechen, weil er anderntags früh wieder am Start sein müsse. Woraufhin sie sagte, dann solle er doch gleich bis morgen früh mit ihr im Café bleiben.

"Wir alle haben an ihr gesündigt", bekennt Ben-Chorin, "wir haben sie verehrt – und gemieden, denn es war schwer mit dieser ganz im Traum versponnenen Frau ein Gespräch zu führen, einen Nachmittag gemeinsam zu verbringen. Und doch war es gerade dies, was sie suchte: die Nähe lebendiger Menschen. Noch wenige Tage vor ihrem Tode entwickelte sie mir den Plan, einen Club zu gründen, in welchem allabendlich von sechs bis halb zehn Uhr jemand bei ihr in ihrem geliebten Stammcafé sitzen sollte … um ihr die Gespenster der Einsamkeit zu vertreiben."

Sie fühlt sich extrem einsam, obwohl es ihr an Kontakten nun wahrlich nicht mangelt. Wieder dieses von einem zweischneidigen Schwert gespaltene Verhältnis von Dichtung und Wahrheit.

Also hüte dich, hüte dich vor allzu schnellen, allzu eindeutigen Bildern. Im Eifer des Gefechts. –

»Nett haben Sie's hier«, sagte er und lächelte etwas verkrampft.
Sie nickte irgendwie hilflos. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
Er schüttelte den Kopf und erging sich in Höflichkeiten, während sie in der Küche verschwand, um denn doch etwas Heißes zu kredenzen.

Sie redeten, ihren Muckefuck schlürfend, über Gott, die Welt und die schöne Literatur. Allseits interessiert und einvernehmlich wie immer. Wie aber jetzt zur Sache kommen? »Frau Lasker-Schüler«, verlegte er sich darauf, aus heiterem Himmel mit der Tür ins Haus zu fallen. Sie blickte ihn mit ihren funkelnden Augen an.

»Also, was ich Sie fragen wollte …«
»Ja?«
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie für mich etwas aufheben könnten.«
»Aufheben?«
»Etwas verwahren, meine ich.«
»Verwahren? Was denn?«
»Etwas sehr Wertvolles, wissen Sie?«
»Nein, weiß ich nicht.« Jeder Ton verriet, wie angefressen sie denn doch war. Sie musste mit etwas ganz anderem gerechnet haben.
»Nun.« – Kunstpause, lange Kunstpause, doppelt lange Kunstpause. – »Es geht um Geld, sehr viel Geld. Besser gesagt: Gold. Um 70 Kilo Gold.« Er sah sie an. Blickte ihr ins Gesicht, traute sich aber offenbar nicht, ihr in die Augen zu sehen. Wechselweise richteten sich seine Pupillen auf ihre Stirn und auf ihre Wangen aus. Ein Geflirre, das Else augenscheinlich noch nervöser machte.
»Bin ich eine Bank?«
»Nein, ganz sicher nicht, aber …«
»Was kann ich mit denn unter 70 Kilo Gold vorstellen?«
»Nun«, sagte er und legte großväterliche Güte in die Stimme, »an den Fingern können Sie das nicht abzählen. Aber das Zeug ist in wunderbar glänzende Barren gegossen.«
»Wie poetisch!«
Dann ließ er sich doch aufs Zahlenspiel ein und rechnete ihr vor, dass es sich dabei um drei, eher dreieinhalb schwarze Reisekoffer handle, die er und sie, beide schließlich im vorgerückten Alter, sicherlich gerade eben so würden schleppen können.
Wobei sich für sie die Frage anschloss, wo sie denn drei, eher dreieinhalb Reisekoffer verstauen solle, hier, in den beengten Verhältnissen ihrer Bude.

Das hieß, sie hatte im Grunde schon zugestimmt.

von Ulrich Land (Kommentare: 0)

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben